Das faszinierende Leben der Störche
Sympathische Flugkünstler mit eingebautem Kompass
Der Weißstorch wird auch »Klapperstorch« genannt.
Das auffällige Klappern mit dem Schnabel und zurückgeworfenem Kopf dient zur Kommunikation. Es gibt ein Begrüßungsklappern, ein Drohklappern mit Zischgeräuschen, ein Warnklappern vor Greifvögeln, ein Klapperkonzert am Schlafplatz und das Klappern zur Paarbindung, bei dem die Störche auch ihre Schnäbel ganz romantisch aneinander schlagen. Storchenküken beginnen im Nest im Alter von nur zwei Tagen mit dem Klappern. · Foto: Lorenz Heer
Von Julia Brunke, Redaktion FREIHEIT FÜR TIERE
Der Weißstorch war lange Zeit ein Symbol von Reinheit, Treue und Glück - und er brachte als Klapperstorch die Kinder. Dörfer mit Storchennestern auf den Dächern scheinen der Inbegriff einer heilen Welt. Häufig nutzen Störche ihre beeindruckenden Bauwerke jahrzehntelang. Im Spätsommer sammeln sie sich für den Flug nach Afrika. Störche sind elegante Segler, die ohne mit den Flügeln zu schlagen im Aufwind scheinbar mühelos Höhe gewinnen. Doch was wissen wir wirklich über die sympathischen Flugkünstler im schwarz-weißen Kleid? In seinem neuen Buch »Der Weißstorch« gibt uns der Biologe und Storchenkenner Lorenz Heer mit atemberaubenden Fotos einmalige Einblicke in das Leben dieser faszinierenden Vögel.
Storchenforschung
Von kaum einer anderen Vogelart werden so viele Daten gesammelt wie vom Weißstorch. Im europäischen Brutareal sind fast sämtliche Horste bekannt und der Bruterfolg wird in vielen Ländern alljährlich erfasst. Storchennester werden mit Kameras rund um die Uhr gefilmt, so dass wir detaillierten Einblick in das Brutgeschehen, das Verhalten der Störche und über ihren Nachwuchs gewinnen. In wissenschaftlichen Projekten befestigen Forschende auf dem Rücken der Weißstörche Satellitensender, so dass die Langstreckenzieher von ihren Nestern in Europa über ihre Zugrouten bis in unzugängliche Gebiete in Afrika verfolgt werden können.
Lorenz Herr fasst in seinem Buch das aktuelle Wissen über Störche zusammen: von Merkmalen, Verbreitung und Lebensraumansprüchen über die Aufzucht der Jungen bis hin zu ihrem Zug nach Afrika. Dabei bezieht er sich auf neueste Forschungsergebnisse und macht auch deutlich: Der Weißstorch ist ein Gradmesser für die vom Menschen geprägte Kulturlandschaft, für den Zustand unserer Umwelt und Biodiversität sowie für die Qualität von Grasland, Weiden, Feuchtwiesen und Ackerland.
Gradmesser für den Zustand unserer Umwelt
Weißstörche brauchen Gewässer und Feuchtgebiete, wie Feuchtwiesen, vernässte Stellen, Teiche, Gräben, Flüsse mit flachen unverbauten Ufern oder Seitenarme von Flüssen. Zur Nahrung der Weißstörche gehört alles, was ihm von der Größe her entspricht: kleine Insekten und Spinnen, Frösche bis hin zu Kleinsäugern wie Wühlmäusen und Maulwürfen. Damit sie in der Nähe ihres Nestes genügend Nahrung für sich und ihre Nestlinge finden, dürfen naturnahe Strukturen in der Agarlandschaft nicht fehlen: Brachen, Ackerrandstreifen, Hecken mit Saumstreifen, feuchte Senken, Feuchtwiesen... . Somit ist der Weißstorch ein Gradmesser für die Biodiversität im Offenland.
Doch zur Nestlingszeit im Juni und Juli herrscht für ihn in unserem Kulturland oft Nahrungsmangel, zu einer Zeit wenn die Jungstörche gerade besonders viel Nahrung benötigen. Und notfalls weicht der Storch dann sogar auf Plastik und anderen Müll als Nahrung für sich und seine Nestlinge aus.
Gefahr für Störche: Plastikmüll
Bei der Plastikmüll-Problematik denken wir an die immense Verschmutzung der Meere und die Auswirkungen auf Fische, Meeresschildkröten, Robben und Seevögel, an Bilder von verendeten Albatrossen, deren Mägen mit Plastik gefüllt sind, oder Basstölpel, die auf Helgoland ihre Nester aus Plastikschnüren bauen, in denen sich ihre Küken verheddern und qualvoll verenden. Doch auch Störche sind betroffen: Sie verbauen Plastik in ihre Nester und füttern auch ihre Jungen damit, wenn sie nicht genug andere Nahrung finden - oder weil sie eine Plastikschnur für einen Wurm halten. Die Folge: Die Jungvögel sterben, weil ihre Mägen mit Plastikteilen verstopft sind, oder sie verhungern mit Mägen voller Plastik. Es gibt auch Berichte von Störchen, die im Nest ertranken, weil Regenwasser durch verbautes Plastik nicht abfließen konnte.
Perfekte Segler
Störche müssen zwischen ihren Brutgebieten in Europa und ihren Überwinterungsgebieten im Süden (oft in Afrika) tausende Kilometer zurücklegen. Die Flügelform des Weißstorches ist bestens an das Segeln im Aufwind angepasst. So kann er weite Strecken zurücklegen, ohne mit den Flügeln zu schlagen. Zum Starten und Landen sei die Flügelform allerdings nicht optimal, erklärt Lorenz Heer: »Darum nimmt der Storch beim Starten vom Boden zuerst ein bis drei Schritte Anlauf, um genügend Luft unter die Flügel zu bekommen. Beim Starten vom Horst gleitet er zuerst etwas abwärts. Beim Landen federt der Storch mit zwei bis drei langsamen Rückwärtsschlägen die Landung ab.«
Kompass und Navigationsgerät
Auf ihrem Langstreckenflug in den Süden kombinieren Weißstörche verschiedene Orientierungsmöglichkeiten: Am Tag nutzen sie den Sonnenkompass und in der Nacht orientieren sie sich am Sternenhimmel. Außerdem haben sie einen eingebauten Magnetkompass, mit dem sie sich am Magnetfeld der Erde orientieren. Diese magnetischen Linien können wir Menschen nicht sehen, aber Vögel nehmen sie wahr. Außerdem orientieren sich Störche wie alle Zugvögel an Landschaftsmerkmalen wie Flüsse, Berge, Autobahnen oder Städte. Darüber hinaus verfügen Zugvögel auch über ein genetisch eingebautes Zeitprogramm: Sie wissen, wann sie im Spätsommer die Reise beginnen und wie sie lange in welche Richtung fliegen müssen, um rechtzeitig im Überwinterungsgebiet zu landen.
13.400 Kilometer - so weit fliegt ein Weißstorch auf seinem Herbstzug über den Tschadsee bis nach Südafrika.
Er kann Gebirge bis 4000 Meter Höhe überqueren. Auf seinem Flug nach Afrika meidet er die Überquerung des Mittelmeers, wo es zu wenig aufsteigende Thermik gibt. Dies führt zu zwei verschiedenen Zugrouten der europäischen Störche: Die westziehenden Störche (rote Route) fliegen Richtung Spanien und gelangen bei der Straße von Gibralta nach Afrika. Die ostziehenden Störche (orange Route) fliegen über den Bosporus und den Golf von Suez nach Afrika. Sie überwintern südlich der Sahara, teilweise fliegen sie sogar bis nach Südafrika.
In den letzten Jahrzehnten ist das Zugverhalten im Wandel: Viele Weißstörche ziehen nur noch bis Südfrankreich, Spanien oder Marokko oder bleiben sogar über den Winter in ihren Brutgebieten. · Illustration: Lorenz Heer
Was können wir für die Weißstörche tun?
»In den letzten 200 Jahren hat sich der Lebensraum des Weißstorchs in Europa stark verändert«, schreibt Lorenz Heer. »Die großen Überschwemmungslandschaften der Flussniederungen sind intensiv genutzten Agrarlandschaften gewichen.« Durch die Zerstörung seiner ursprünglichen Lebensräume war der Weißstorch in den 1950er Jahren in vielen Teilen Deutschlands ausgestorben - und in der Schweiz völlig. Die gute Nachricht ist: Inzwischen haben sich die Bestände durch gezielte Wiederansiedlungsprojekte und Renaturierungsmaßnahmen erholt. Weltweit wird die Zahl der Weißstörche auf über 700.000 Individuen geschätzt, die Brutpopulation auf 250.000 Storchenpaare. In den Roten Listen der Schweiz und Deutschlands wurde der Weißstorch 2021 in seiner Gefährdung zurückgestuft. Dennoch bedroht der dramatische Rückgang von Insekten, Amphibien und Reptilien wie Fröschen & Co. auch den Weißstorch.
Jede und jeder von uns kann sich für eine vielfältige Biodiversität einsetzen: durch den Einkauf von Lebensmitteln aus biologischem Anbau, durch naturnahe Gärten und Wildblumenwiesen, durch das Anlegen von Biotopen, durch Unterstützung von Naturschutzprojekten zur Renaturierung, zum Beispiel zur Wiedervernässung. Das hilft nicht nur dem Weißstorch, sondern uns allen. Wir wissen, dass die Wiederherstellung von natürlichen Flussläufen und Auen mit Überschwemmungswiesen vor Hochwasser schützen würde. Und eine Zunahme an Blütenpflanzen, Insekten, Reptilien, Amphibien, Vögeln und frei lebenden Säugetieren macht unsere Ökosysteme stabiler und sichert unser aller Lebensgrundlagen.
Der Autor
Lorenz Heer ist promovierter Biologe, Wildtier- und Natur-Fotograf und Geschäftsführer von Pro Natura Bern. Informationen: www.lorenzheer.ch |