Ein Plädoyer für freilebende Wölfe in Deutschland
Anfang der Jahrtausendwende wurde die Rückkehr der Wölfe nach Deutschland als Sensation und Erfolg für den Natur- und Artenschutz gefeiert. Inzwischen gibt es in fast allen Bundesländern Wolfsnachweise. Einen ganz besonderen Einblick in das Leben dieser scheuen und faszinierenden Wildtiere gewährt das neue Buch Das Leben unserer Wölfe - Beobachtungen aus heimischen Wolfsrevieren von Heiko Anders in Zusammenarbeit mit dem NABU. Nach einem einleitenden Teil samt Basis-Wissen Wolf werden acht Wolfsreviere Deutschlands vorgestellt.
150 Jahre waren Wölfe in Deutschland ausgerottet. Von Polen aus kehrten sie auf eigenen Pfoten wieder zurück. Als im Jahr 2000 in der Oberlausitz die ersten Wolfswelpen geboren wurden, war das eine Sensation. Inzwischen gibt es Wolfsrudel in bislang sechs Bundesländern.
»Meine ersten frei lebenden Wölfe habe ich in der sächsischen Lausitz erlebt«, berichtet Naturfotograf Heiko Anders. Das war Zufall - denn eigentlich wollte er Hirsche fotografieren, als er plötzlich zwei junge Wölfe entspannt einen Waldweg entlanglaufen sah. »Die zufällige Begegnung mit den beiden Wölfen war dann der Anlass für mich, mich mit diesen Tieren intensiv auseinanderzusetzen. Meine Leidenschaft war geweckt, und so ließ ich mich über Wölfe schulen. Mit meiner Arbeit unterstütze ich seither das offizielle wissenschaftliche Monitoring und betreibe Naturschutz mit der Kamera.«
Seit vielen Jahren begleitet der Naturfotograf die wilden Heimkehrer und verbrachte unzählige Stunden in den Wolfsrevieren Brandenburgs, Sachsens und Sachsen-Anhalts. Die Bilder, die er seinem Buch vorstellt, sind in den Jahren 2013 bis 2018 im Rahmen seiner Arbeit für das Wolfsmonitoring entstanden, das er für verschiedene Ämter und Institutionen in diesen drei Bundesländern durchgeführt hat. Der renommierte Wolfs-Fotograf zieht uns mit seinen beeindruckenden Aufnahmen in den Bann dieser faszinierenden Wildtiere. Die Aufnahmen dieses Buches zeigen das Leben und Verhalten unserer heimischen Wölfe - so, wie ich sie kennengelernt habe: als fürsorgliche, sehr sozial organisierte Familientiere, die alleine die Hälfe des Jahres mit der Welpenaufzucht verbringen.
Wolfswelpen des Rudels »Coswig« im Fleming.
In dem waldreichen Höhenzug im südwestlichen Brandenburg und östlichen Sachsen-Anhalt leben inzwischen drei Wolfsfamilien. Die drei Rudel kommen mit relativ kleinen Revieren von etwa 120 Quadratkilometern aus - normalerweise ist ein durchschnittliches Wolfsrevier doppelt so groß. »Voraussetzung für diese Ansiedlung mehrerer Rudel nebeneinander ist ein hoher Bestand an Beutetieren«, erklärt Heiko Andres, der im Rahmen des wissenschaftlichen Monitorings die Wölfe seit vielen Jahren begleitet. »Wölfe wählen die Reviergröße immer so, dass die Nahrung nachhaltig reicht.« · Bild: Anders, Heiko / NABU, (Hrsg.): Das Leben unserer Wölfe. Haupt, 2019 © Heiko Anders
In vielen Wolfsbegegnungen erlebte der Naturfotograf, dass das Miteinander in einer Wolfsfamilie dem in einer menschlichen Familie ähnelt: Die meisten Wolfsrudel bestehen aus einem Wolf und einer Wölfin, die eine lebenslange Partnerschaft eingehen und als Oberhaupt die Familie anführen, ihren Welpen sowie den Jungwölfen aus dem letzten Jahr. Diese Jugendlichen helfen bei der Aufzucht der Welpen mit.
»Wolfsrudel in freier Natur leben ohne Streitigkeiten um die Rangordnung, um Führungspositionen oder um das Recht auf Fortpflanzung. Die Eltern haben die natürliche Autorität, und sobald die Jährlinge geschlechtsreif werden, verlassen sie in der Regel das elterliche Territorium. Dann beginnt für sie die große Suche nach einem Partner und einem eigenen Revier mit Wanderungen von oft vielen Hundert Kilometern«, schreibt der Wolfsexperte. Eine Hierarchie mit Alpha -, Beta - und Omega -Wölfen entstehe nur in Wildparks und Zoos, wo das Abwandern nicht möglich ist. »Zum anderen konnte ich sehen, wie die Wölfe mit uns Menschen als Nachbarn umgehen - nämlich unaufgeregt, aber vorsichtig und respektvoll - so, wie wir es auch den Wölfen gegenüber handhaben sollten.«
Wölfe sind vorsichtige Wildtiere, die Begegnungen
mit Menschen in der Regel meiden. Spaziergänger werden einen Wolf kaum aus der Nähe zu Gesicht bekommen. Der Naturfotograf Heiko Andres arbeitet nicht nur mit leistungsstarken Teleobjektiven, sondern auch mit Tarnzelt und Tarnkleidung, um Wölfe vor die Linse zu bekommen. »Haben die Wölfe, von mir natürlich nicht gewollt, mich als Menschen wahrgenommen, haben sie sich schnell zurückgezogen.« · Bild rechts: © Heiko Anders
»Vorurteile und Ängste abbauen«
»Es sind leider immer wieder die Interessen weniger Menschen, die in einen Konflikt mit der Natur geraten, so auch mit dem Wolf«, erklärt Naturfotograf Heiko Anders. »Menschen können lernen, mit ihm zu leben, der Wolf hat es bereits. Einer gemeinsamen Zukunft stehen vor allem Ängste und Unwissenheit im Weg. Ich hoffe, dieses Buch kann dabei helfen, Vorurteile und Ängste abzubauen.«
Wölfe stehen unter höchster europäischer Schutzstufe. Dennoch werden in letzter Zeit vor allem von Nutztierhaltern und der Jagdlobby immer wieder Forderungen laut, Wölfe zu bejagen. Schafe werden oft ohne Schäfer und ohne Herdenhund im Freien gehalten - da kann es schon einmal vorkommen, dass ein Wolf ein Schaf als leichte Beute fängt. Allerdings machen Nutztiere lediglich 1,1 % der Beute von Wölfen aus - dies zeigen Untersuchungen aus Deutschland im Zeitraum von 2001 bis 2016, die das Senckenberg Museums für Naturkunde in Görlitz anhand von Kotproben durchgeführt hat. Außerdem erhalten Nutztierhalter von den Bundesländern finanzielle Unterstützung für Herdenschutzmaßnahmen wie den Bau von wolfssicheren Zäunen, Herdenschutzhunde sowie Entschädigungen, wenn tatsächlich ein Wolf Schafe oder ein Kalb geholt hat. Im Übrigen werden Schafe und Kälber in Deutschland bekanntlich nicht gehalten, weil sie so goldige und freundliche Tiere sind, sondern weil sie von Menschen gegessen werden.
Auch für viele Jäger ist der Wolf ein Feindbild: Sie fürchten den Wolf als Konkurrenten, der ihnen die Rehe wegfängt. Medienwirksam wird die alte Angst vor dem Wolf geschürt - das Märchen von Rotkäppchen und dem Wolf lässt grüßen. Natürlich müssen Rehe und Hirsche nicht vor Wölfen geschützt werden: Wölfe rotten keine Wildtierbestände aus. Außerdem halten Wölfe die Wildtierbestände gesund, da sie hauptsächlich alte und kranke Tiere erbeuten.
Ein junger Wolf genießt die Herbstsonne
in der Gohrischheide im sächsischen Landkreis Meißen. Hier wurde 2007 ein ehemaliger Truppenübungsplatz zum Naturschutzgebiet erklärt. Im Winter 2015/2016 wurde mit Hilfe automatischer Wildkameras eine kleine Wolfsfamilie bestehend aus einem Wolfspaar und seinen Welpen nachgewiesen. Die Wölfin des Rudels lebt mit Handicap: Die linke Vorderpfote und ein Stück des Beins fehlen - vermutlich durch eine Schlagfalle. »Und dennoch: Trotz dieser Behinderung meistert die Wölfin ihr laufintensives Leben auch auf drei Pfoten«, berichtet Naturfotograf Heiko Anders. »Immerhin zieht sie seit dem Jahr 2015 jedes Jahr Welpen groß. Eine überaus beachtliche Leistung. Die wenigen Begegnungen mit ihr bleiben bis heute sehr tief in meinem Herzen, ihr intensiver und prüfender Blick für immer in meinem Kopf.« · Bild: Anders, Heiko / NABU, (Hrsg.): Das Leben unserer Wölfe. Haupt, 2019 © Heiko Anders
»Wollen wir mit der Natur oder weiter gegen sie arbeiten und leben?«
»Der Wolf hat bei uns nur langfristig eine Chance, wenn er als Wildtier akzeptiert wird«, so NABU-Präsident Olaf Tschimpke in seinem Geleitwort zu dem Buch. »Wölfe sind Wildtiere, die in unserer Landschaft gut leben können - auch ohne echte Wildnis, wie man sie aus dem Fernsehen oder Kino kennt. Aufgrund ihrer Lebensweise werden die meisten Menschen allerdings kaum je einen Wolf zu Gesicht bekommen.«
Schauspieler und NABU-Botschafter Andreas Hoppe bezeichnet die Rückkehr der Wölfe nach Deutschland als großes Geschenk und »eine historische Chance, von Menschenhand ausgerotteten Tieren, die hier seit Urzeiten heimisch waren, eine zweite Chance zu geben« , so der TV-Kommissar und NABU-Wolfsbotschafter. Er fragt: »Warum sollte es in Deutschland nicht möglich sein, mit den Wölfen zu leben? In Ländern wie Polen, Tschechien, Slowakei, Rumänien und Bulgarien, aber auch Italien, Spanien und Portugal ist die Präsenz des Wolfes Normalität und Gewohnheit.« Natürlich bedürfe es mehr Mühe, Zucht- und Herdentiere zu schützen. Doch er warnt: »Wenn wir weiterhin, also wir Menschen, Natur als Selbstbedienungsladen verstehen und sie respektlos, egoistisch und profitorientiert missbrauchen, wird diese unsere Welt untergehen.« Es gehe um die äußerst wichtige Entscheidung, ob wir mit der Natur oder weiter gegen sie arbeiten und leben wollen. Und der Wolf scheint dafür stellvertretend zu sein.