Prof. Dr. Josef H. Reichholf: »Unsere Städte zeigen: Ein friedliches Miteinander von Mensch und Natur ist möglich«
FREIHEIT FÜR TIERE-Interview mit Josef H. Reichholf
FREIHEIT FÜR TIERE sprach mit Prof. Dr. Josef H. Reichholf über sein neues Buch »Stadtnatur«, über Großstädte als Rettungsinseln der Artenvielfalt und darüber, was geschehen müsste, damit die Artenvielfalt auf den Fluren und in den Wäldern wieder zunimmt.
FREIHEIT FÜR TIERE: In Ihrem neuen Buch »Stadtnatur« zeigen Sie unsere Großstädte in neuem Licht: als Inseln der Artenvielfalt. Was ist um diese Inseln herum passiert?
Josef H. Reichholf: Drei Hauptveränderungen fanden in der freien Landschaft statt: Die Flurbereinigung vereinheitlichte die Agrarflächen und machte sie (groß)maschinentauglich. Dann überdüngte die Landwirtschaft die Flächen massiv und vernichtete Lebensvielfalt mit dem anhaltenden Einsatz von Bioziden. Zudem findet die Ernte schlagartig bzw. beim Grünland in (zu) rascher Folge statt. Die kleinbäuerliche Landwirtschaft blieb auf der Strecke, es setzte anhaltende Überproduktion ein und Randbereiche, wie die Dörfer mit Gärten und Naturschutzgebiete, wurden von Überdüngung und Gifteinsatz mit betroffen.
So wurden die Städte in den weitflächigen Agrarlandschaften zu Rettungsinseln für frei lebende Tiere und wild wachsende Pflanzen.
Sind Wildschweine, Füchse und Rehe in der Stadt nicht unnatürlich?
FREIHEIT FÜR TIERE: Wildschweine, Füchse und Rehe in der Stadt - ist das nicht unnatürlich?
Josef H. Reichholf: Ganz und gar nicht! Unnatürlich sind die Bedingungen, unter denen diese »jagdbaren Tiere« in Wald und Flur leben müssen, um zu überleben. Wo die vielfach unnötige Verfolgung eingestellt wird, können die Tiere ihre ihnen gemäße natürliche Lebensweise entfalten. Genau dies geschieht zunehmend in den Städten dank der tierfreundlichen Einstellung der Stadtbevölkerung.
»Frei lebende Tiere bedeuten in der Stadt sichtbare, erlebbare Lebensqualität«
FREIHEIT FÜR TIERE: Die Artenvielfalt in den Städten macht Mut - und zeigt, dass wir Menschen es in der Hand haben!
Josef H. Reichholf: So ist es, und darüber freue ich mich auch. Ich lebte 40 Jahre lang in der Großstadt, in München, und erlebte dabei selbst, wie die städtische Lebensqualität zunahm, während sich meine niederbayerische Heimat zum Großanbaugebiet für Mais entwickelte und die einstige Artenvielfalt verlor.
In der Großstadt retten Menschen, oft sogar die Polizei, in Not geratene »Wild«-Tiere nicht minder wie Haustiere. Frei lebende Tiere bedeuten in der Stadt sichtbare, erlebbare Lebensqualität. Läuft ein Marder über die Straße, rückt kein Verfolgungskommando aus, um das »Untier« zu erledigen. Dabei verursachen Marder wirkliche Schäden an Autos.
Auf dem Land erlebte ich erst vor wenigen Jahren, dass man sich sogar darüber beschwerte, dass Rehe in einem nicht eingezäunten Garten Knospen fraßen. Der »Fall« kam sogar ins Bayerische Fernsehen. Die Kinder dürfen zwar Bambi-Geschichten lesen, aber offenbar sollen sie keine lebendigen, vertrauten Rehe erleben.
»Damit Kinder wieder Schmetterlinge erleben und den Gesang der Lerchen hören«
FREIHEIT FÜR TIERE: Was müsste geschehen, dass die Artenvielfalt auch auf dem Land wieder zunimmt?
Josef H. Reichholf: Die Landwirtschaft wird aus Steuermitteln seit mehr als einem halben Jahrhundert massiv subventioniert. Diese Mittel sollten umgeschichtet nur denen zugutekommen, die natur- und umweltfreundlich produzieren, was derzeit aber wirtschaftliche Nachteile bringt. Gutes Geld für »Klasse« und nicht mehr für bloße »Masse«, müsste das Ziel der Umschichtung sein.
Dringen Düngestoffe und Gifte in benachbarte Grundstücke, müsste das Verursacherprinzip zur Behebung der Schäden oder zu deren Ausgleich angewandt werden.
Aktiv kann die Stadtbevölkerung aber selbst vorgehen und Flächen »auf dem Land« erwerben, die sie nach ihren Zielsetzungen gestaltet und natürlich(er) werden lässt. Etwa dass Kinder wieder Schmetterlinge und zirpende Grillen erleben, den Gesang der Lerchen hören und »fleißigen Bienen« zusehen können.
»Wir brauchen mehr Volksbegehren«
FREIHEIT FÜR TIERE: In Ihrem neuen Buch zeigen Sie, dass ein friedliches Miteinander von Mensch und Natur möglich ist - unsere Großstädte sind der Beweis. Das ist doch auch eine hoffnungsvolle Vision?
Josef H. Reichholf: Unbedingt! Das Bayerische Volksbegehren »Rettet die Bienen!« hat dies vor einigen Jahren der Politik höchst eindrucksvoll vorgeführt. Wir brauchen mehr davon, viele Volksbegehren, auf dass man in der Politik die Interessen der Allgemeinheit berücksichtigt, und nicht immer bloß einzelne Interessengruppen begünstigt.
Das Gespräch mit Josef H. Reichholf führte Julia Brunke, Redaktion »FREIHEIT FÜR TIERE«
Lesen Sie auch die Buchvorstellung:
»STADTNATUR - Eine neue Heimat für Tiere und Pflanzen« von Josef H. Reichholf