Interview mit Josef H. Reichholf
Die Feinde unserer Vögel: Jagd und Agrarwirtschaft
Freiheit für Tiere: Ihr neues Buch ist eine Liebeserklärung an die Vogelwelt, die Sie seit Ihrer Jugend erforschen. Was macht für Sie die besondere Faszination von Vögeln aus? Und sind Sie heute immer noch stundenlang in der Natur unterwegs, um Vögel zu beobachten?
Josef H. Reichholf: Ja, noch immer faszinieren mich Vielfalt und Verhalten der Vögel. Stets gibt es Neues zu sehen. Wenn das Spatzenmännchen ein Weibchen anbalzt, wirkt dies für uns erheiternd, geradezu lustig, auch wenn man die Posen schon oft gesehen hat. Ein Falke im Stoßflug, ein kreisender Adler im Aufwind oder Möwen, die mit dem Sturm zu spielen scheinen, zeigen uns auf beeindruckende Weise, wie simpel die Flugmaschinen sind, derer wir uns bedienen, um auch fliegen zu können. Wer von der Begeisterung für die Vogelwelt einmal erfasst worden ist, wird kaum noch davon wegkommen - und jede Möglichkeit nutzen,
Vögel zu beobachten, ihren Gesängen und Rufen zu lauschen und ihrem Leben zu folgen. Es gibt bei mir kaum einen Tag ohne Notizen über Vögel.
In der Heimat von Josef H. Reichholf
wachsen im stillen Winkel des Schutzgebietes am Inn kleine Gänsesäger heran: »Wer von der Begeisterung für die Vogelwelt einmal erfasst worden ist, wird kaum noch davon wegkommen.« · Bild: Ernst Weber
viel mehr können, als wir bisher wissen"
Freiheit für Tiere: In Ihrem Buch Rabenschwarze Intelligenz - Was wir von Krähen lernen können , das wir in Freiheit für Tiere 4/2009 vorgestellt haben, bringen Sie Ihre große Begeisterung für die Schwarzgefiederten zum Ausdruck. Sie schreiben, dass ihre Intelligenz es zum Teil durchaus mit der Intelligenz von Primaten aufnehmen kann. Kürzlich war die Meldung zu lesen, dass Krähen im so genannten Wasserkrug-Test sogar die Geschicklichkeit von Schulanfängern erreichten. Ein Ende der erstaunlichen Erkenntnisse aus der Intelligenz- und Verhaltensforschung scheint nicht abzusehen, oder?
Josef H. Reichholf: Sicher gewinnen wir dank intensivierter Forschung immer tiefere Einblicke in Leben und Leistungsfähigkeiten der Vögel. Jeder gute Ornithologe weiß längst, dass sie viel mehr können als wir bisher wissen. Die Hauptschwierigkeiten bereiten die Artenschutzbestimmungen einerseits und die Scheu der allermeisten heimischen Vogelarten andererseits. Wer sich intensiver mit den Vögeln, ihrer Lebensweise und ihrem Verhalten befassen möchte, braucht dazu von den Naturschutzbehörden Ausnahmegenehmigungen - auch für die Aufzucht und Haltung von Krähen, die von den Jägern aber zu Zehntausenden ohne triftigen Grund (außer dem eigenen Jagdvergnügen) abgeschossen werden. Die Pseudo-Schutzbestimmungen erschweren die Forschung, bringen aber den geschützten Arten so gut wie nichts. Die wahren Feinde unserer Vögel wurden ja ausgenommen von den Beschränkungen. Bejagung macht sie scheu und schwer zu beobachten. Die moderne Intensivlandwirtschaft entzieht vielen Vögeln die Lebensgrundlage. Es ist leichter, an Neukaledonischen Krähen als an heimischen Raben- oder Nebelkrähen zu forschen. Ich bin sicher, dass unsere Krähen nicht minder intelligent sind als diese. Wie sonst hätten sie die anhaltende Verfolgung überstehen können?!
Jagd macht Vögel scheu
Freiheit für Tiere: Viele Vogelarten werden immer noch bejagt, weil sie als Schädlinge gelten - allen voran ausgerechnet die Krähen, aber auch Kormorane und Gänse. Wissenschaftler dagegen sagen, dass durch den massenhaften Abschuss die Schäden sogar noch größer werden. Welche Folgen hat die Jagd auf Vögel?
Josef H. Reichholf: Die Folgen sind vielfältig, aber am schwersten wiegt sicherlich die Scheu! Denn die meisten Vögel leben in einer Menschenwelt. Vor dem schlimmsten, heimtückischsten Feind müssen sie sich fast immer und überall in Acht nehmen, um überleben zu können. Die Vögel, sogar die kleinen Arten, wurden auf Menschenscheu selektiert. Die scheuesten überleben. Sogar unsere Singvögel sind davon betroffen, weil noch immer im Nahbereich, im Mittelmeerraum, intensiver Singvogelfang betrieben wird. Die jagdbaren Arten müssen ohnehin stets fluchtbereit sein.
Die Scheu ist lebensnotwendig. Häufige Fluchten kosten zusätzliche Energie. Das bedeutet mehr Nahrung. Daher fressen bejagte, scheu gemachte Kormorane mehr Fisch und wiederholt durch Bejagung aufgescheuchte Gänsescharen mehr Wintergetreide als solche, die man in Ruhe lässt und nicht vertreibt. Umherstreifende Gruppen von Krähen, die aufgrund der Bejagung keine Brutreviere draußen auf dem Land beziehen konnten, verzehren mehr Gelege von Kleinvögeln oder Fasanen als Reviere besitzende Paare. Die Folgen der Bejagung sehen wir generell im Vergleich von Stadt und Land, noch deutlicher aber international in den richtigen Naturschutzgebieten und Nationalparken, in denen nicht wie bei uns munter weitergejagt wird. Zudem macht die Bejagung die betroffenen Arten unverhältnismäßig selten. Habichte und Wanderfalken könnten ohne jagdliche Verfolgung weit besser mit Krähen und Elstern umgehen und Seeadler mit Kormoranen und Wildgänsen als die Jäger, die sich einbilden, die Natur würde ohne ihre Regulierung nicht funktionieren. Deshalb kann man nur nachdrücklich fordern, dass die Jagd auf Vögel vollständig eingestellt wird. Jägerische Schießlust ist kein triftiger Grund.
Freiheit für Tiere: Wenn die Jagd mehr schadet, als dass sie nutzt: Warum ist die Jagd auf Vögel immer noch erlaubt?
Josef H. Reichholf: Unser Jagdsystem leitet sich ab von der Feudaljagd früherer Zeiten. Es betont unausgesprochen das herrschaftliche Jagdvergnügen und kaschiert dieses mit der angeblichen Notwendigkeit zu regulieren. Diese Privilegierung verteidigen die gesellschaftlich und politisch sehr einflussreichen Kreise nach wie vor höchst wirkungsvoll gegen die Interessen der Allgemeinheit. Die Ansprüche der Angler und der Landwirtschaft kommen verstärkend hinzu. Sie wollen möglichst nichts abgeben von dem, was ihnen gehört , obwohl es die Allgemeinheit bezahlt oder subventioniert hat. Jagdlust und Selbstsucht haben sich in einer unheiligen Allianz verbunden. Wirkliche Schäden müssen jedoch die Steuerzahler tragen, wie etwa nach Hochwässern oder Dürren in der Landwirtschaft oder bei der Sanierung verschmutzter Gewässer, die den Sportanglern zugute kommt.
die größten Chancen in Städten"
Freiheit für Tiere: In Berlin gibt es heute mehr Nachtigallen als in ganz Bayern. Werden die großen Städte zu Artenschutzgebieten? Was müsste geschehen, damit die Artenvielfalt auf dem Land wieder zunimmt?
Josef H. Reichholf: Gegenwärtig hat der Artenschutz in der Tat die größten Chancen in Städten und auf Industrie- oder Verkehrs anlagen. Am Münchner Flughafen singen mehr Lerchen als an irgendeiner anderen Stelle Bayerns vergleichbarer Flächengröße, weil sie auf den Monokulturen der Fluren, insbesondere den Maisdschungeln, nicht mehr leben können. Unsere Politik spendiert Subventionen zwar mit vollen Händen in nicht benötigte Massenproduktion der Landwirtschaft, berücksichtigt dabei aber nicht die Lebensqualität der Menschen. Zu dieser gehören auch die Gesänge der Nachtigallen und Lerchen, die bunten Blumen und gute Luft auf dem Land (!). Eine Änderung wäre vorstellbar, wenn das Subventionssystem schrittweise abgebaut und im Gegenzug ganz direkt gutes Geld für gute Leistungen den benötigten landwirtschaftlichen Produkten bezahlt würde. Längst übersteigt der Bedarf an Bioprodukten die Eigenerzeugung in Deutschland, weil es für die große Mehrheit der Landwirte attraktiver ist, die Subventionen zu kassieren. Geopfert wurde die kleinbäuerliche Wirtschaft, die das Land schön gemacht hatte. Die Subventionen dienen weit weniger den Menschen als der Konzentration zu agro-industriellen Großkombinaten.
"Der Einsatz lohnt!"
Freiheit für Tiere: In Ihrem neuen Buch Ornis - Das Leben der Vögel haben Sie eine aufrüttelnde Mahnung formuliert: Es liegt in unserer Hand, ob sie überleben oder für immer verschwinden . Was möchten Sie den Leserinnen und Lesern von Freiheit für Tiere dazu noch sagen?
Josef H. Reichholf: Dass sie nicht nachlassen sollen in ihrem Bemühen! Der Einsatz lohnt, wie der Kampf gegen den Stummen Frühling in den 1960er und 70er Jahren gezeigt hat. Der grünen Energiewende dürfen Vielfalt und Schönheit unserer Fluren auf keinen Fall geopfert werden. Ein Land voller Maisfelder, Wind räder, Solaranlagen und Stromleitungen ist nicht mehr lebenswert. Der Trend dorthin erhält und fördert die unmenschliche Massentierhaltung ebenso wie die Nachverdichtung der Städte, die auch noch die letzten Freiflächen kosten wird. Bald können das nicht einmal mehr die Spatzen von den Dächern pfeifen, weil sie die Jahr tausende alte Gemeinschaft mit den Menschen aufgeben (müssen).
Das Interview mit Josef H. Reichholf führte Julia Brunke, Redaktion Freiheit für Tiere .
Lesen Sie auch die Buchvorstellung: Das Leben der Vögel
Der Autor
Josef H. Reichholf wirkte 20 Jahre lang als Generalsekretär der Ornithologischen Gesellschaft in Bayern und veröffentlichte viele vogelkundliche Arbeiten. Er war zudem viele Jahre lang Mitglied der Kommission für Ökologie der Internationalen Naturschutzunion (IUCN). Er ist Träger der Treviranus-Medaille , der höchsten Auszeichnung der Deutschen Biologen, und des Grüter-Preises für Wissenschaftsvermittlung. 2007 wurde er mit dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet.
Josef H. Reichholf hat zahlreiche Bücher zu naturwissenschaftlichen und ökologischen Themen geschrieben, darunter:
Der Tanz um das goldene Kalb. Der Ökokolonialismus Europas (2004, 3. überarbeitete Aufl. 2011)
Die Zukunft der Arten (2005, Neuauflage 2009)
Rabenschwarze Intelligenz (2009)
Wilde Tiere in der Stadt (von Florian Möllers und Josef Reichholf, 2010)
Der Ursprung der Schönheit: Darwins größtes Dilemma (2011)
Ornis - Das Leben der Vögel (2014).