Streuner! Straßenhunde in Europa
Immer mehr Tierfreunde haben einen ehemaligen Straßenhund beziehungsweise einen Hund aus dem Ausland zu sich nach Hause geholt. Und immer mehr Menschen engagieren sich im Auslandstierschutz oder wollen sich für Straßenhunde einsetzen. Doch wie leben Straßenhunde eigentlich? Ist die Situation in den Ländern wirklich immer so grausam, wie man es oft im Tierschutz mitbekommt? Ist es in jedem Fall richtig, Straßenhunde zu retten ? Kann ein Leben auf der Straße mit all
ihren Gefahren lebenswerter sein als eingesperrt? Was ist besser für diese Hunde: In ihrer Heimat in Freiheit auf der Straße zu leben, im Tierheim zu landen oder zu uns nach Deutschland geholt zu werden? Und werden wir hier in Deutschland unseren Haushunden überhaupt gerecht?
Stefan Kirchhoff, Jahrgang 1978, wollte genau dies in Erfahrung bringen. Der gebürtige Ostfriese ist Tierschützer und arbeitete viele Jahre als Tierpfleger in Tierheimen beim Bund gegen Missbrauch der Tiere e.V. (BMT). Er war Beiratsmitglied des BMT, Ausbilder für das Tierheim und Mitglied im Prüfungs ausschuss der Tierpfleger. Erfahrungen mit verwilderten Haushunden gewann er durch seine eineinhalbjährige Zusammenarbeit als stellvertretender Projektleiter mit Günther Bloch innerhalb des Tuscany Dog Projektes. In dieser Feldstudie hat er in Italien das Verhalten verwilderter Hunde beobachtet. Das Projekt ist innerhalb der Hundeszene sehr bekannt geworden, da Günther Bloch ein Buch und eine DVD zu diesem Thema herausgegeben hat.
Stefan Kirchhoff reiste mit seinem Fotoapparat
quer durch Europa und dokumentierte das Leben der Straßenhunde. Während seiner Reise wurde das klassische Bild des Straßenhundes komplett über den Haufen geworfen: Viele Streuner sind dem Menschen sehr zugetan. · Bild: Stefan Kirchhoff · Aus: Streuner! Straßenhunde in Europa
Wie leben Straßenhunde eigentlich?
Während meiner Tierschutztätigkeit habe ich tausende von unterschiedlichen Hunden kennen gelernt. Jeder bringt seine eigene Geschichte, eigene Erfahrungen und einen individuellen Charakter mit , so Stefan Kirchhoff. Im Besonderen gilt dies für Auslandshunde, mit denen ich nicht nur als Tierpfleger im Tierschutz zu tun hatte . Innerhalb der letzten 12 Jahre hauptberuflicher Tierschutzarbeit war er in Ländern wie Ungarn, Teneriffa, Rumänien, Norditalien tätig.
Über die grundsätzliche Notwendigkeit des Auslandstierschutzes besteht unter Tierschützern weitgehend Einigkeit. Doch die Frage, was das Beste für Straßenhunde ist, ist pauschal nicht zu beantworten. Es gibt unzählige Tierschutzorganisationen und Privatpersonen, die Hunde aus dem Ausland nach Deutschland holen. Im Internet findet man zahlreiche Bilder von Hunden, die Furchtbares mitmachen mussten. Doch wie leben die Tiere vor Ort wirklich? Wie organisieren sie sich und was machen sie den ganzen Tag? Werden sie von Menschen versorgt? Wie ist die Einstellung der Menschen in den jeweiligen Ländern zu den Streunern?
Diese Fragen führten bei Stefan Kirchhoff zu dem Wunsch, das Leben der Streunerhunde genauer zu dokumentieren. Das Sammeln der Informationen und das Dokumentieren habe ich ab März 2013 mit einer dreimonatigen Reise in meinem Wohnmobil durch Italien, Griechenland, Türkei, Bulgarien, Rumänien und Serbien abgerundet. In seinem Buch Streuner! Straßenhunde in Europa stellt er Leben und Verhalten der Straßenhunde sehr anschaulich und mit vielen Fotos dar.
Das Straßenhund-Leben kann natürlich sehr viele Nachteile mit sich bringen und das wird auch oft dokumentiert , sagt Stefan Kirchhoff. Natürlich gibt es vergiftete Hunde, verstümmelte Hunde und die Jagd von Hundefängern auf die herrenlosen Vierbeiner. Doch er hat auch ganz andere Hunde erlebt. Die Bilder in seinem Buch entsprechen nicht dem typischen Bild eines kranken und Mitleid erregenden Streuners. Es gibt auch sehr, sehr schöne Situationen auf der Straße. Ich habe gut genährte Straßenhunde gesehen, wo man nicht davon reden kann, dass sie täglich ums Überleben kämpfen.
Eines der wenigen echten Rudel,
die der Tierschützer unterwegs gesehen hat. Straßenhunde leben meist in einer Gruppe. Nur verwandte Tiere bilden ein Rudel mit intensiven Sozialkontakten: Sie liegen eng zusammen, schmusen und lecken sich gegenseitig. Bilder: Stefan Kirchhoff · Aus: Streuner! Straßenhunde in Europa
Wie ist die Situation in den einzelnen Ländern?
Seine Reise führte Stefan Kirchhoff zuerst nach Italien. Im Süden gibt es viele Straßenhunde. Da überall Müll rumliegt, finden sie genug zu essen. Viele haben sich ein Zuhause gesucht, liegen beispielsweise vor einer Pizzeria, wo sie geduldet werden und suchen den Kontakt zu Menschen. Doch in Italien sind Hunde fänger unterwegs, welche die Tiere in die Caniles bringen. Dafür gibt es Geld vom Staat. Hier geht es ums Geschäft: Da es für jeden Hund Geld gibt, haben die Betreiber der Caniles kein Interesse, die Hunde zu vermitteln. Und da fängt das eigentliche Elend an , erklärt der Tierschützer.
In der Türkei leben nebst Rumänien die meisten Straßenhunde in Europa. In vielen Regionen können die Hunde ungestört leben. Ich bin da ziemlich voreingenommen hingefahren, weil es immer heißt, die Moslems mögen keine Hunde und empfinden sie als unrein , berichtet der Tierschützer. Und dann habe ich dort Kinder gesehen, die mit Straßenhunden spielen, die Eltern standen daneben - das war überhaupt kein Problem. In manchen Städten habe er sogar Trinkbehälter für die streunenden Katzen und Hunde gesehen. Das Tierschutzgesetz in der Türkei schreibt das Einfangen, Kastrieren und wieder Aussetzen der Hunde vor. Das wird vom Staat finanziert. Die Hunde bekommen eine Ohrmarke, die zeigt, dass sie kastriert sind. Die Hunde werden dabei oft auch gleich entwurmt.
»Spätestens bei der Hundegruppe im Tulpenbeet
wäre in Deutschland Schluss mit Lustig und hysterische Mütter und Kleingärtner würden auf die Barrikaden gehen«, schreibt Stefan Kirchhoff. Die Toleranz der Bevölkerung gegenüber Straßenhunden in der Türkei sei höher als es deutsche Tierschützer oft propagieren. · Bild: Stefan Kirchhoff · Aus: Streuner! Straßenhunde in Europa
Viele Straßenhunde leben in Griechenland. Dort gibt es nicht sehr viele staatliche Tierheime und auch keine Hundefänger. Allerdings gebe es immer wieder einige Einheimische, die das Problem selbst lösen wollen, zum Beispiel durch Vergiftungen.
Spanien gilt als frei von Straßenhunden. Der Grund liegt im kontinuierlichen Wegfangen der Hunde durch staatliche Hundefänger. Nach 21 Tagen werden die Hunde getötet, wenn nicht vorher der Besitzer oder ein Tierschützer den Hund wieder aus dem Zwinger holt. In den Tierheimen sind überdurchschnittlich viele Jagdhunde wie Podencos und Galgos vertreten. Diese Hunde werden massenhaft vermehrt und ohne große Ausbildung in die Wildnis geschickt, um jagdbare Tiere aufzuscheuchen. Tierschützer helfen mit eigenen Tierheimen, die Straßen hundefrei zu halten, meist finanziert mit Spenden aus Deutschland. Leider macht es in Spanien keinen Sinn, die Hunde zu kastrieren und wieder freizulassen, da sie kurz danach von Hundefängern wieder eingefangen werden.
Auch in Ungarn ist das Töten der Straßenhunde nach Ablauf einer bestimmten Frist erlaubt: Die Hunde werden kontinuierlich weggefangen und getötet. Das Ergebnis ist: Es gibt keine Hunde auf der Straße. Aber zu welchem Preis? , fragt Stefan Kirchhoff.
Besonders viele Streuner gibt es in Rumänien. Die Strategie schwankt zwischen großflächigen Tötungsaktionen und Nichtstun. Europaweit fordern Tierfreunde ein Ende der Hundetötungen in Rumänien und Regelungen im Umgang mit Straßentieren auf EU-Ebene. Wenn keine Hundefänger unterwegs sind, haben es die Tiere oft gut: Ich habe stundenlang spielende Straßenhunde gesehen. Und wenn Straßenhunde spielen, dann geht es denen gut - psychisch und physisch. Sie sind einfach ausgeglichen , erklärt Kirchhoff. Weil die Hunde oft nicht kastriert sind, vermehren sie sich unkontrolliert. Wenn sich Menschen von den großen Hundegruppen bedroht fühlen, sind Vergiftungen, Misshandlungen und neue brutale Tötungsaktionen die Folge.
Wie sieht die Alternative aus?
Anhand welcher Kriterien kann man nun beurteilen, ob es einem Hund gut geht oder ob er leidet? Ich habe Straßenhunde gesehen, die ihre natürlichen Bedürfnisse ausleben können , berichtet Stefan Kirchhoff. Streuner haben viele Möglichkeiten, von denen unsere Haushunde im goldenen Käfig nur träumen können... Alles, was sie tun, tun sie, weil sie sich dafür entschieden haben, sie dürfen selbst aus freien Stücken heraus Entscheidungen treffen.
Insgesamt fotografierte der Tierschützer auf seiner Reise 503 Hunde. Davon waren nur acht in schlechtem Ernährungszustand und nur einer schwer krank. Leichte gesundheitliche Auffälligkeiten wie Humpeln habe er bei neun Streuner gesehen. Insgesamt sei die große Mehrheit der Hunde, die er gesehen habe, in einem guten Zustand gewesen.
Dort, wo es Tötungsaktionen gibt, haben es sich Tierschützer zur Aufgabe gemacht, die Hunde von der Straße zu holen. Doch die Situation in den Tierschutz-Tierheimen sei oft alles andere als gut: Das liegt oft daran, dass die Tierschützer zu viele Hunde aufnehmen , berichtet Stefan Kirchhoff. Weil die Hunde auf engstem Raum zusammen sind und einander auch nicht ausweichen können, führt dies zu Aggressionen. Ich habe Hunde erlebt, die nur in einer Ecke gelebt haben . Sobald sie sich bewegten, wurden sie von anderen Hunden vertrieben.
Selbst wenn man zehnmal so viele Hunde nach Deutschland holen würde, gäbe es noch Abertausende Hunde, die ihr Leben in Tierheimen verbringen müssten.
In manchen Tierheimen habe Stefan Kirchhoff mehr Elend gesehen als auf der Straße. Zur Beruhigung muss ich natürlich erwähnen, dass es auch sehr gute, geradezu vorbildliche Tierheime gibt, welche jedoch leider die Ausnahme darstellen.
Die Bedeutung von Kastrationsprojekten
Große Bedeutung beim Thema Straßenhunde haben darum Kastrationsprojekte: Die Tiere werden kastriert, mit einer Ohrmarke versehen und wieder freigelassen ( Neuter and Release ). Werden diese Aktionen von Tierschützern durchgeführt, werden die Hunde bei dieser Gelegenheit auch behandelt, entwurmt, entfloht und gegen Tollwut geimpft. Sinn der Kastrationsprojekte ist, die Vermehrung der Straßenhunde zu verhindern.
Neuter and Release ist nicht nur die tierfreundlichste Methode im Umgang mit Straßenhunden, sondern letztlich auch die effizienteste und damit kostengünstigste. Stefan Kirchhoff beschreibt das aus der Wildbiologie bekannte Phänomen so: Die Populationsgröße einer Tierart, in unserem Beispiel eben Hunde, wird beschränkt durch das Angebot an Ressourcen, wie zum Beispiel Wasser und Futter. Sind die Ressourcen ausgeschöpft, kommen keine Hunde mehr nach und die Geburtenrate stagniert. Fängt man die Tiere jedoch oder tötet sie, so macht man dadurch lediglich Platz für die nächsten. Die Folge ist, dass die Tierheime aus allen Nähten platzen, ohne dass die Population auf der Straße zurückgeht. Die kastrierten Hunde fungieren also einerseits als Platzhalter", können aber andererseits nicht mehr für weiteren Nachwuchs sorgen.
Nichts kann man pauschal in eine Schublade stecken
Mein persönliches Fazit ist: Nichts, aber auch gar nichts im Auslandstierschutz kann man pauschal in eine Schublade stecken. In vielen Ländern sehe die Momentaufnahme der Straßenhunde nicht immer so schlecht aus. Andererseits wäre es auch eine Verzerrung der Realität, wenn ich nicht auch darauf hinweisen würde, welch geradezu widerliche Misshandlung gegenüber Tieren sich so mancher Mensch einfallen lässt. Allerdings finden Misshandlungen von Tieren überall auf dieser Welt statt. Es gibt in dieser Beziehung keine guten" und bösen" Länder.
Ein sehr komplexes Thema!
Das Thema Auslandstierschutz und Straßenhunde ist ein sehr komplexes Thema über das zu Recht viel diskutiert wird. In dem leider auch zu oft und unverhältnismäßig viel pauschalisiert wird , so Stefan Kirchhoff. Er möchte darauf aufmerksam machen, dass es immer ein großes ABER gibt, nichts lässt sich pauschal in eine Schublade stopfen. Darum hat der Tierschützer die typischen Aussagen im Auslandstierschutz unter die Lupe genommen:
Die Hunde aus dem Ausland sind alles ehemalige Straßenhunde, die nicht auf den Menschen sozialisiert sind und sich deswegen in Deutschland nicht integrieren lassen.
ABER nicht alle Hunde aus dem Ausland sind ehemalige Straßenhunde. ABER nicht alle ehemaligen Straßenhunde sind dem Menschen gegenüber scheu. ABER nicht alle Straßenhunde leben glücklich und zufrieden in Rudeln. ABER es gibt sehr viele glückliche Auslandshunde in Deutschland.
Auf der Straße lauern zu viele Gefahren, deswegen müssen wir sie alle retten.
ABER wir können unmöglich alle Hunde nach Deutschland retten. ABER die einzige Alternative ist, sie in Tierheimen unterzubringen. ABER die Hunde können eine Lebensqualität auf der Straße haben.
In dem Land XY gibt es keine tierlieben Menschen.
ABER ich habe sehr viele hundeliebe Menschen in den jeweiligen Ländern kennen gelernt, auch in der Türkei! ABER in diesen Ländern hängt nicht hinter jedem zweiten Baum ein auf gehangener Hund. ABER auch in Deutschland gibt es Misshandlungen, Abschüsse durch Jäger, Giftköder etc.
In einem Tierheim sind sie vor Gefahren geschützt.
ABER in einem Tierheim können die Hunde nicht ansatzweise ihre natürlichen Bedürfnisse ausleben. ABER viele Tierheime sind so voll, das auch da gefahren wie Verletzungen durch Beißereien entstehen. ABER die Vermittlungsrate im Ausland ist extrem niedrig. Usw. usw. usw.
Diese Aufzählungen könnte ich beliebig lang weiterführen. Wir müssen uns von diesen Pauschalisierungen lösen und jeden einzelnen Hund und seine Situation genau betrachten und entsprechend handeln , erklärt Stefan Kirchhoff. Wenn es nach mir gehen würde, hätte jeder Hund auf dieser Welt ein schönes Zuhause. Dieser Traum wird aber nie wahr werden. So bleiben uns zwei Möglichkeiten vor Ort, denn egal wie viele Hunde wir nach Deutschland holen, es werden immer jede Menge Hunde vor Ort bleiben. Für diese Tiere muss ich die Möglichkeit, sie wieder kastriert auf die Straße zu lassen, in Betracht ziehen.
Auch hier gibt es wieder ein ABER, denn diese Entscheidung ist nicht immer so einfach zu treffen. In Bukarest würde ich jetzt auch keinen Hund auf die Straße lassen. Ihr seht, es ist alles nicht so einfach.
Stefan Kirchhoff erzählt, dass er während seiner 12-jährigen hauptberuflichen Arbeit im Tierschutz sehr viele Hunde erlebt habe, die nicht für die Vermittlung nach Deutschland in Frage gekommen seien, welche die Tierschützer vor Ort aber auch nicht kastriert aussetzen wollten, obwohl die Bedingungen dafür gegeben waren. Auf der anderen Seite habe ich Streuner kennen gelernt, die seit Jahren ein freies Leben auf der Straße führen durften , berichtet der Tierschützer. Dieses Leben habe ich dokumentiert, nicht um zu glorifizieren oder zu verschönen, sondern einfach um das GANZE objektiv zu betrachten und Menschen die Möglichkeit zu geben, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.
So ist das Buch Streuner! Straßenhunde in Europa einerseits eine sehr informative Tierschutz-Dokumentation, die ihresgleichen sucht, andererseits aber auch ein wunderschöner Bildband, der uns Hunde und ihr Verhalten von einer ganz anderen Seite näher bringt.
Der Autor
Stefan Kirchhoff, geboren 1978 in Emden, ursprünglich gelernter Tischler, entschloss sich mit 22 Jahren, im Tierheim Köln/Dellbrück vom Bund gegen Missbrauch der Tiere e.V. (BMT) als Tierpfleger zu arbeiten. Nach seiner Ausbildung als staatlich anerkannter Tierpfleger im Bereich Tierheim und Pensionstierpflege arbeitete er eineinhalb Jahre in Italien am Tuscany Dog Projekt von Günther Bloch als stellvertretender Projektleiter. Danach leitete er das Tierheim Arche Noah des BMT in Brinkum, bis er sich Ende 2013 mit seiner Hunde schule in Achim selbstständig machte. |